Programmheft
Chorrenaissance / wie ein Phoenix…
Wenn ein Chor nicht gemeinsam singen darf, ist es dann noch ein Chor? Gleich zu Probenbeginn für dieses Konzert – nach fünf Monaten wieder alle in einem Raum vereint – war klar, dass der Chor noch ein Chor ist: ein Organismus, eine 34-köpfige Familie. Die Stimmung in jener ersten Probe war von wunderbar positiver Energie. Da wir aufgrund der Sicherheitsmaßnahmen nicht in unserem angestammten Probensaal üben konnten, wichen wir in eine Kirche aus, um den Sicherheitsabstand zwischen den Sänger*innen zu gewährleisten. Wir mussten lernen mit dieser Situation umzugehen, denn der Abstand erschwert es, sich gegenseitig zu hören. Doch die Chance, neu miteinander arbeiten zu lernen, bereitete uns allen große Freude. Deshalb sehe ich das erste Konzert dieser Saison als eine Art Wiedergeburt oder „Renaissance“ unseres Chorsingens an.
Als deutlich wurde, dass wir unser Programm überdenken mussten, war uns klar, dass es ein radikal anderes werden müsse. Ursprünglich hätten wir den Abend unter dem Motto „Beethoven ohne Beethoven“ zusammen mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen gestaltet – Haydn, Rihm und Cherubini – und wollten uns nun an keiner gekürzten Version versuchen, die uns selbst nicht überzeugt hätte. Tatsächlich wussten wir bis vor kurzem nicht einmal wie viele Sänger*innen wir auf der Bühne der Philharmonie sicher würden unterbringen können, weshalb wir ein Programm von großer Flexibilität konzipierten, um auf etwaige notwendige Anpassungen vorbereitet zu sein.
Wo anfangen? Nun, nach verheerenden Waldbränden oder einer Dürre, sind es die Triebe, die mutig ihre Köpfe aus dem Boden recken. Vielleicht ist es nach den verheerenden Auswirkungen auf die Kultur durch die anhaltende Covid-19-Pandemie an der Zeit, neu zu bedenken, auf welchem Boden unser Repertoire gewachsen ist. In unserem Konzert der „Wiedergeburt“ gehen wir zurück zu den Wurzeln der klassischen Musik, indem wir vorwiegend Stücke aus der Renaissance singen.
Das Wort “Wurzeln” ist von großer Wichtigkeit; denn aus einzelnen Melodiestimmen alter Volkslieder und diverser religiöser Kirchenliedtraditionen ist die Musik, wie wir sie kennen, gewachsen. Zunächst fügten Sänger den existierenden Liedern eine streng parallele oder auch harmonische Begleitstimme hinzu; das bestehende Lied, meist mündlich überliefert, wurde so von Sänger zu Sänger weiter ausgeschmückt und immer wieder adaptiert; und mit der Erfindung der musikalischen Notation wurde es möglich Stücke zu schreiben, in denen mehrere Leute gleichzeitig verschiedene Stimmen sangen. Aus den Wurzeln der Monodie erwuchs so die Polyphonie, die sich dann über die Jahrhunderte zu dem entwickelte, was wir heute, ob instrumental oder vokal, unter klassischer Musik verstehen.
Wir werden bei diesem Programm von Martin Baker begleitet, einem herausragenden Organisten. Seine Karriere ist eng mit der Polyphonie der Renaissance verbunden, besonders durch sein Engagement an der Westminster Cathedral, wo er über viele Jahre eine Verbindung des Chors zu jenem Repertoire förderte.
Das heutige Konzert beginnen wir mit einer einzigen Stimme, die den eindringlichen mittelalterlichen Hymnus der Mystikerin Hildegard von Bingen einleitet; eine Melodie, die sich, ohne sich von jeglicher Harmonie erden zu lassen, in die himmlischen Weiten des Soprans aufschwingt. Daran schließt sich ein kurzes zweiteiliges polyphones Stück von Orlando di Lasso an, das die kompositorischen „Regeln“ der Frührenaissance klar zum Vorschein bringt, wie jene zu den natürlichen Toneffekten der Konsonanz und Dissonanz (Spannung und Auflösung), sowie jene zur melodischen Imitation und musikalischem Zwischenspiel.
Während der vier Jahrhunderte, die Bingen und di Lasso voneinander trennen, schenkten Musiker wie Guillaume Dufay, John Dunstable, Johannes Ockeghem und Josquin des Préz alten gregorianischen Gesängen ein neues Leben in polyphoner Form. Der Aufbau von Veni, Creator Spiritus ist dafür ein exzellentes Beispiel. Gilles Binchois hat der ausgeschmückten Version des beliebten gregorianischen Kirchenliedes über den Heiligen Geist zwei zusätzliche Stimmen hinzugefügt.
Als nächstes treffen wir auf das vierstimmige Ensemble – Cantus (oder Sopran), Altus, Tenor und Bass – das bis heute das Fundament aller gemischten Chöre bildet. Das Sanctus stammt aus einer der drei erhaltenen Messen von William Byrd – die beiden anderen sind für drei und fünf Stimmen komponiert. Noch heute sind diese Messen regelmäßig in den Kathedralen ganz Großbritanniens zu hören. Byrds Art zu komponieren ist oft von einer madrigalischen Unbeschwertheit geprägt, wie zum Beispiel das rhythmische Zwischenspiel in Pleni sunt caeli et terra. Stellen Sie sich dabei die Engel vor, wie sie freudig jubilierend durch den Himmel fliegen! Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde das Stück ursprünglich von nur wenigen Sänger*innen gesungen, vielleicht sogar von nur vier Personen, denn es wurde für Messen komponiert, die unter der Herrschaft von Elisabeth I. im Geheimen in katholischen Haushalten gefeiert wurden. Einige Passagen von Byrds Messe erinnern stark an die Mean Mass von John Taverner, die im frühen 16. Jahrhundert geschrieben wurde und die Byrd möglicherweise als kleiner Junge gesungen haben könnte.
Auch Palestrinas Missa Brevis beginnt vierstimmig, im zweiten Agnus Dei fügt er jedoch eine zweite Cantus-Stimme hinzu. Der perfekte Kanon aus den zwei Sopranstimmen ist dadurch von höchster Anmut. Obwohl er so kunstvoll gebaut ist, ist sich der Zuhörer kaum der technischen Genialität bewusst, die dahintersteckt. Aus den hunderten von Renaissancemessen, die für das „mögliche Repertoire“ dieses Programms in Frage kamen, mussten diese Messe und jene von Byrd unbedingt dabei sein. Sollte ich jemals auf einer einsamen Insel stranden und dazu verdammt sein, dasselbe Stück wieder und wieder in meinem Kopf vor mich hinzusingen, wäre es wohl dieses erhabene Agnus Dei…
Nun bei sechs Stimmen angelangt, offenbart sich in Gesualdos Responsorium für die Karwoche Tenebrae Tristis est anima mea der Wille des Komponisten, die Grenzen ders polyphonen Regeln zu verschieben. Schon mit den eröffnenden Takten erzeugt er durch unerwartet harmonische Wendungen Unsicherheit und Schmerz, die sich erst mit „usque ad mortem“ auflösen, wenn Christus von seinem unabwendbaren Tod spricht. Darauf folgt sein menschliches Flehen nach Freundschaft und Unterstützung – „sustinete hic“, mit stärkerer Betonung wiederholt -, sobald er sich die Krone aufsetzt und die Menschenmenge um sich versammeln sieht, die wir in den wirbelnden Melismen bei „circumdabit me“ hören. Die Jünger werden davonlaufen – zu hören in der erneut gewollt groben Tonmalerei, wenn die Sänger*innen bei „Vos fugam capietis“ in schnellen Kaskaden übereinander stolpern – und Christus zurücklassen (ein so eisiger harmonischer Wechsel hebt diese Stelle hervor, er könnte von Poulenc sein), sodass er sich opfern muss. Für wen? „Pro vobis?“… Gesualdo wiederholt diese Zeile als wollte er unterstreichen, dass es keinen Zeifel daran gibt, dass all dies zu unserem Besseren geschah – oder durch unsere Schuld.
John Sheppard war Informator Choristarum am Magdalen College in Oxford, wo in den Statuten verfügt wurde, dass jener antiphone Text Libera nos, salva nos, justifica nos jeden Morgen und jeden Abend rezitiert werden solle. Für Sheppard ungewöhnlich: in beiden Teilen findet sich ein Cantus firmus im Bass (die einzige ungeteilte Stimme), mit dem er der Musik einen stetigen, geerdeten und ruhigen Charakter verleiht. Von großer Ruhe ist auch Tomás Luis de Victorias Ausgestaltung desn Ave Maria. Hier haben wir es nun mit acht Stimmen, aufgeteilt auf zwei Chöre, zu tun – eine Art der Vertonung, die eine Generation später im venezianischen cori spezzati-Repertoire von zentraler Bedeutung war. Stellenweise singen die Chöre einfache antiphonale Echos, dann wieder gibt es Teile mit komplexen Allokationen. Auffällig ist, dass die einzelnen Stimmen nur im seltensten Fall zusammenkommen, was jene Momente umso aufregender klingen lässt. Nach dem musikalischen Kniefall bei „fructus ventris tui, Jesus“, fährt Victoria mit einer erweiterten Variante dieses antiphonen Marienlieds fort, bis die dreimalige Wiederholung von „ora pro nobis peccatoribus“ das Gebet einleitet, in dem Maria ersucht wird, sie möge sich leibhaftig zeigen.
Mit der Musik von Johann Bach und Antonio Caldara betreten wir die Epoche des frühen Barock. Hier jedoch, sind meines Erachtens Begrifflichkeiten wenig hilfreich oder interessant: alle Musik, alle Kunst, ja das Leben selbst ist nur Teil eines großen Kontinuums. Und so hören wir in Bachs Motette klar die Einflüsse der „cori spezzati“-Schule und die madrigalische Tonmalerei, die ihm durch die Musik der vorigen Generationen wohl bekannt waren. Anstatt der auf dem Cantus firmus aufbauenden gregorianischen Gesänge, haben wir nun lutherische Choräle als strukturelles Fundament (in diesem Fall eine Zusammenstellung von vier Autoren, die zusammen einen Kommentar auf das Neue Testament bilden). Schließlich erleben wir mit Caldara’s überschwänglichem Crucifixus die 16-stimmigen Blüte des polyphonen Stils, der durch die Jahrhunderte stetig weiter gewachsen war. Hoch oben auf dem Dach der Philharmonie, dieses wunderbaren Gebäudes, befindet sich, von der Straße aus kaum zu sehen, eine Skulptur von Hans Uhlmann. Sie ist nach jenem sagenumwobenen Phönix benannt, der für die Wiedergeburt aus der Asche steht. Dieses Gebäude, zusammen mit all jenen, die hier arbeiten und es besuchen, hat seit seinem Bestehen das kulturelle Leben der Stadt enorm bereichert. Und einem Phönix gleich entwickelt sich auch dieses Konzert von einem einsamen Trieb zur vollen Blüte im 16-stimmigen „surround sound“. Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam die Tatsache feiern können, dass wir nun wieder vor Ihnen, unserem Publikum musizieren können – mit dem emotionalsten Instrument, das uns gegeben ist: der menschlichen Stimme.
Hildegard von Bingen
O Virtutis Sapientiae
Gregorianische Antiphon für Frauenstimmen
Improvisation
Orlando di Lasso (1532-1594)
Fulgebunt justi
Motette zu zwei Stimmen
Improvisation
Gilles Binchois (um 1400-1460)
Veni creator spiritus
Motette zu drei Stimmen über den Pfingsthymnus
Improvisation
William Byrd (1539/40 oder 1543-1623)
Sanctus
aus: Messe zu vier Stimmen
Giovanni Pierluigi da Palestrina (um 1525-1594)
Agnus Dei I & II
aus: Missa Brevis zu vier/fünf Stimmen
Improvisation
Carlo Gesualdo da Venosa (1566-1613)
Tristis est anima mea
Motette zu sechs Stimmen
Improvisation
John Sheppard (um 1515-1558)
Libera nos II
Motette zu sieben Stimmen
Improvisation
Tomás Luis de Victoria (um 1548-1611)
Ave Maria
Motette für zwei vierstimmige Chöre
Johann Bach (1604-1673)
Unser Leben ist ein Schatten
Motette zu neun Stimmen in zwei Chören
Improvisation
Antonio Caldara (1670-1736)
Crucifixus
Motette zu 16 Stimmen
Zugabe
Giovanni Gabrieli (1557-1612)
Jubilate Deo zu acht Stimmen
Martin Baker, Orgeln
–
RIAS Kammerchor Berlin
Justin Doyle, Dirigent
Texte
O virtus Sapientiae,
quae circuiens circuisti
comprehendendo omnia
in una via, quae habet vitam,
tres alas habens,
quarum una in altum volat,
et altera de terra sudat,
et tertia undique volat.
Laus tibi sit, sicut te decet,
O Sapientia.
O Kraft der Weisheit,
umkreisend die Bahn, die eine des Lebens,
ziehst um das All du die Kreise,
alles umfangend!
Drei Flügel hast du:
In die Höhe empor schwingt der eine,
auf der Erde müht sich der zweite,
und allüberall schwingt der dritte.
Lob sei dir, Weisheit,
würdig des Lobes!
Fulgebunt justi sicut lilium
et sicut rosae in Jericho
florebunt ante dominum.
Scheine wie die Lilie
und die Rosen in Jericho
Bevor der Meister blüht.
Veni, Creator Spiritus,
mentes tuorum visita,
imple superna gratia,
quae tu creasti pectora.
Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein,
besuch das Herz der Kinder dein:
Die deine Macht erschaffen hat,
erfülle nun mit deiner Gnad.
Sanctus Dominus Deus sabaoth.
Pleni sunt caeli et terra Gloria tua.
Osanna in excelsis.
Heilig, ist Gott, der Herr Zebaoth!
Alle Lande sind Deiner Ehre voll.
Hosanna in der Höhe!
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi:
miserere nobis.
Agnus Die, qui tollis peccata mundi:
dona nobis pacem.
Lamm Gottes, der du nimmst hinweg die Sünde der Welt:
erbarme dich unser.
Lamm Gottes, der du nimmst hinweg die Sünde der Welt:
gib uns deinen Frieden.
Tristis est anima mea usque ad mortem:
sustinete hic et vigilate mecum.
Nunc videbitis turbam quæ circumdabit me.
Vos fugam capietis, et ego vadam immolari pro vobis.
Ecce appropinquat hora, et Filius hominis tradetur in manus peccatorum.
Meine Seele ist betrübt bis an den Tod.
Bleibt hier und wacht mit mir.
Nun werdet ihr die Menge sehen, die mich umgeben wird.
Ihr aber werdet die Flucht ergreifen, und ich werde gehen,
um für euch geopfert zu werden.
Sehet, die Stunde ist nahe
und der Menschensohn wird in die Hände der Sünder überantwortet.
Libera nos, salva nos, justifica nos, O beata Trinitas.
Befreie uns, rette uns, beschütze uns, o heilige Dreifaltigkeit.
Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum;
benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Jesus.
Sancta Maria, Regina caeli, dulcis et pia
O Mater Dei: ora pro nobis peccatoribus,
ut cum electis te videamus. Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir;
du bist gebenedeit unter den Frauen,
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.
Heilige Maria, Himmelskönigin, süß und fromm
O Mutter Gottes: bitte für uns Sünder,
auf dass wir dich durch den Auserwählten sehen.
Unser Leben ist ein Schatten auf Erden.
Ich weiß wohl dass unser Leben oft nur als ein Nebel ist,
den wir hier zu jeder Frist mit dem Tode seind umgeben,
drum ob’s heute nicht geschicht, meinen Jesum lass ich nicht.
Sterb ich bald so komm ich abe von der Welt Beschwerlichkeit,
ruhe bis zur vollen Freud, und weiss dass im finstern Grabe
Jesus ist mein helles licht, meinen Jesum lass ich nicht.
Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich gläubet,
der wird leben ob er gleich stürbe,
und wer da lebet und gläubet an mich,
der wird nimmermehr sterben.
Weil du vom Tod erstanden bist
werd ich im Grab nicht bleiben,
mein höchster Trost dein Auffahrt ist,
Todsfurcht kann sie vertreiben,
denn wo du bist da komm ich hin,
dass ich stets bei dir leb’ und bin,
drum fahr ich hin mit Freuden.
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben!
Wie ein Nebel bald entstehet, und bald wiederum vergehet,
so ist unser Leben, sehet!
Ach wie nichtig, ach wie flüchtig sind der Menschen Sachen!
Alles, alles was wir sehen, das muß fallen und vergehen,
wer Gott fürcht’, bleibt ewig stehen.
Ach Herr, lehr uns bedenken wohl,
daß wir sind sterblich allzumal!
Auch wir allhier keins Bleibens han,
müssen alle davon, gelehrt, alt oder schön,
müssen alle davon.
Crucifixus etiam pro nobis sub Pontio Pilato
passus et sepultus est.
Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus,
hat gelitten und ist begraben worden.