Konzertaufzeichnung vom 19.06.2021 um 18:00h
aus der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbรผttel



Manche Fehleinschรคtzungen halten sich erstaunlich hartnรคckig. Etwa die von Michael Praetorius als kreuzbravem Provinzkapellmeister am Hof zu Wolfenbรผttel, einem Durchschnittsmusiker im ewigen Schlagschatten seiner groรŸen Kollegen. Hรถchste Zeit also, aus Anlass seines 400.Todestages mit den schwerwiegendsten Vorurteilen aufzurรคumen. Als Sohn eines lutherischen Pfarrers aus Creuzburg an der Werra war Praetorius stets ein Mann des Geistes, hochgebildet, erfolgreicher Student der Theologie und Philosophie, versierter Organist und beschlagener, รผberaus einflussreicher Musiktheoretiker. Vor allem aber ein durch und durch aufgeschlossener Komponist, der die neuesten Stilentwicklungen – insbesondere diejenigen sรผdlich der Alpen – mit wachem Interesse verfolgte, um sie in seinem eigenen Schaffen zu reflektieren. So geben die faszinierenden Choralkonzerte seiner spรคten, 1619 verรถffentlichten Sammlung der Polyhymnia Panegyrica, die das heutige Programm rahmen, einen geradezu รผberbordenden Widerhall jener opulenten Vokaltechniken, die die italienische Mehrchรถrigkeit in ganz Europa berรผhmt gemacht hatten. Himmelwรคrts strebend, farbenreich und expressiv zugleich, รผppig besetzt “mit allerhand musikalischen Instrumenten und Menschenstimmen”. Praetorius selbst, obwohl weitgereist, konnte vom Land seiner Sehnsรผchte leider nur trรคumen. Wir bringen ihn nun, vier Jahrhunderte spรคter, mit einer Reihe italienischer Zeitgenossen zusammen, die er persรถnlich nie kennenlernen durfte. Merke: Beim RIAS Kammerchor gehen Trรคume in Erfรผllung.

  • RIAS Kammerchor Berlin
  • Capella de la Torre
  • Katharina Bรคuml
  • Florian Helgath, Dirigent

Virtuelles Programmheft

Mit der Autoritรคt eines Universalgelehrten beschreibt Michael Praetorius in seinem groรŸen Lehrwerk โ€žSyntagma Musicumโ€œ den Status der europรคischen Musik um 1600. Die Vorrangstellung Italiens rรคumt er unumwunden ein und zitiert ausfรผhrlich aus den neuesten Werken der dortigen Kompositionskollegen. Praetorius selbst war allerdings nie eine Reise nach Italien vergรถnnt. Keinen der von ihm vielfach erwรคhnten Zeitgenossen โ€“ Monteverdi, Cifra, Viadana, Agazzari โ€“ hat er je persรถnlich getroffen. Im Jubilรคumsprogramm anรคsslich seines 400. Todestages werden ausgewรคhlte Kompositionen von Praetorius mit Werken jener italienischer Komponisten kombiniert, die von ihm in seinem Lehrwerk โ€žSyntagma musicumโ€œ als Vorbilder angefรผhrt werden.

Links:

Portal zu Praetorius mit ausfรผhrlichen Informationen zu Leben und Werk, Hinweisen auf Notenausgaben und auf aktuelle Veranstaltungen: www.michael-praetorius.de

 

Geboren um 1572 in Creuzburg an der Werra, wuchs Michael Praetorius als Sohn eines Pfarrers auf, der seinerseits noch bei Martin Luther und Philipp Melanchthon studiert hatte. Auch Michael Praetorius strebte ein Theologiestudium an und ging dafรผr nach Schuljahren in Torgau und Zerbst an die Viadrina nach Frankfurt (Oder). Um sich sein Studium finanzieren zu kรถnnen, wirkte er dort bereits als Organist an der Universitรคts- und Pfarrkirche St. Marien und erarbeitete sich erste musikalische Reputation. Um 1589 verlieรŸ er Frankfurt und setzte seine Studien in Helmstedt fort. Hier wurde der in Wolfenbรผttel residierende Herzog Heinrich Julius von Braunschweig auf die umfassenden Begabungen von Praetorius aufmerksam und engagierte ihn 1593 als Hoforganist. Da Heinrich Julius in Personalunion auch postulierter Bischof im (protestantischen) Halberstadt war, ergaben sich fรผr Praetorius enge Verbindungen zu dieser Stadt sowie zur Bischofsresidenz nach Grรถningen (bei Halberstadt).

Fรผr seinen Dienstherrn war Praetorius auรŸerordentlich vielseitig tรคtig: Er schrieb zahlreiche Kompositionen, hatte als Hofbeamter aber auch hรคufig allgemeinere Aufgaben eines Sekretรคrs zu รผbernehmen und begleitete den Herzog regelmรครŸig auf Reisen. 1604 stieg Praetorius dann zum Kapellmeister auf und war damit fรผr alle musikalischen Aktivitรคten am Hof verantwortlich.

Der Ruf von Praetorius als herausragende musikalische Autoritรคt verbreitete sich nun rasch รผber den gesamten mitteldeutschen Raum. Immer wieder wurde er um Gutachten fรผr Orgelneubauten oder um Ratschlรคge zur Neuordnung von Hofkapellen gebeten. Gleichzeitig mehrten sich fรผr ihn die Auftrรคge fรผr Festmusiken zu auรŸergewรถhnlichen Anlรคssen wie Hochzeiten einflussreicher Adliger oder politische Gipfeltreffen.

Nach dem Tod des Braunschweiger Herzogs 1613 gelang es dem Dresdner Kurfรผrsten Johann Georg I., Praetorius an den Sรคchsischen Hof zu verpflichten. Praetorius hielt sich in den folgenden Jahren regelmรครŸig in Dresden auf und kam in dieser Zeit auch mit dem jungen Heinrich Schรผtz in Berรผhrung, der ab 1614 gleichfalls in Dresden weilte. In seinen letzten Lebensjahren reiste Praetorius rastlos zwischen Wolfenbรผttel, Dresden und anderen Orten umher, um seinen vielen Aufgaben gerecht zu werden. Brieflichen oder persรถnlichen Kontakt hielt er mit zahlreichen Persรถnlichkeiten der Zeit, unter anderem mit den Thomaskantoren Sethus Calvisius und Johann Hermann Schein, mit Heinrich Schรผtz und Johann Staden sowie mit den Orgelbauern Esaias Compenius und Gottfried Fritzsche.

Praetorius starb im Februar 1621 und wurde unter der Orgelempore seiner wichtigsten Wirkungsstรคtte, der Kirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbรผttel, beigesetzt.

Links:

Portal zu Praetorius mit ausfรผhrlichen Informationen zu Leben und Werk, Hinweisen auf Notenausgaben und auf aktuelle Veranstaltungen: www.michael-praetorius.de

Bereits im Titel seiner Sammlung โ€žPuericiniumโ€œ wird deutlich, dass Michael Praetorius hier den hohen Stimmen, also den Knabenstimmen, eine besondere Rolle รผbertrรคgt. Die 14 Choralkonzerte dieses Bandes sind รผppig besetzt und weisen jeweils als โ€žKlangkroneโ€œ drei oder vier โ€žCantusโ€œ-Stimmen auf, die von weiteren Vokal- und Instrumentalstimmen begleitet werden.

Links:

Noten: http://www.michael-praetorius.de/wp-content/uploads/2020/07/E-19.014-Mein-Seel-erhebt-den-Herren-Partitur.pdf

Das Magnificat, also den Lobgesang Mariens, wie er im Lukas-Evangelium รผberliefert ist, hat Michael Praetorius vielfach vertont. Das verwundert nicht, war doch das Magnificat fester Bestandteil der Vesper-Liturgie und wurde entsprechend hรคufig auch in feierlicher mehrstimmiger Weise dargeboten. In seinem Druck โ€žPuericiniumโ€œ von 1621 hat Praetorius eine bis zu 14-stimmige Vertonung des deutschen Magnificat-Textes โ€žMeine Seel erhebt den Herrenโ€œ verรถffentlicht. Gekrรถnt wird der ohnehin groรŸ besetzte musikalische Satz โ€“ wie bei den weiteren Choralkonzerten in diesem Druck โ€“ durch Knabenstimmen. Praetorius hatte fรผr diese auรŸergewรถhnliche Besetzung ganz detaillierte Klangvorstellungen, wie er im ausfรผhrlichen Vorwort mitteilt:

โ€žVier Knaben sollen an vier gesonderten Orten in der Kirche stehen, einander gegenรผber oder wie es sonst mรถglich ist. Der erste Knabe, der bei der Orgel steht, beginnt ganz alleine. Danach setzt der  zweite, der dritte und schlieรŸlich der vierte Knabe ein und singt seinen entsprechende Part fein rein, frisch, deutlich und wohl vernehmlichโ€œ. Um eventuelle klangliche Defizite der Knaben auszugleichen, schlรคgt er weiterhin vor: โ€žDa es sich aber etwas leise und dรผnn anhรถren kรถnnte, wenn die Knaben weit auseinander stehen und ganz alleine singen, so ist es sehr gut, wenn jedem Knaben ein Begleit-Instrument zugeordnet wรผrde, ein Regal, ein Positiv, ein Cembalo, eine Theorbe oder Lauten.โ€œ

Zu hรถren sind diese lichten Oberstimmen fast in allen Versen dieses deutschen Magnificats, besonders deutlich im Vers 2 (โ€žDenn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehnโ€œ) sowie im Vers 4 (โ€žUnd seine Barmherzigkeit wรคhrend immerโ€œ).

Meine Seel erhebt den Herren und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.
Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehn.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskind;
Meine Seel erhebt den Herren und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.
Denn er hat groรŸe Ding an mir getan, der da mรคchtig ist und des Namen heilig ist.
Meine Seel erhebt den Herren und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.
Und seine Barmherzigkeit wรคhret immer fรผr und fรผr, bei denen, die ihn fรผrchten.
Er รผbet Gewalt mit seinem Arm und zerstreuet, die hoffรคrtig sind in ihres Herzens Sinn.
Meine Seel erhebt den Herren und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.

Er stรถรŸet die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen.
Meine Seel erhebt den Herren und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.
Die Hungrigen fรผllet er mit Gรผtern und lรคsst die Reichen leer.
Meine Seel erhebt den Herren und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.

Er gedenket der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf.
Wie er geredt hat unsern Vรคtern, Abraham und seinem Samen ewiglich.
Ehr sei Gott dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geiste,
wie es war von Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Es war der Hit einer Hochzeit, der etwas spรคter von vielen Komponisten in Europa als Motiv neuer Kompositionen verwendet wurde: Als โ€žBallo del Gran Ducaโ€œ ging die Melodie von Florenz aus als Ohrwurm um die Welt. Selbst Klostermauern hat die eingรคngige Melodie รผberwunden โ€“ eine Version stammt vom Benediktinermรถnch Adriano Banchieri.

Links:

Noten: https://ks4.imslp.net/files/imglnks/usimg/9/9f/IMSLP608684-PMLP978925-37-banchieri–sonata_sopra_laria_musicale_del_gran_duca—-0-score.pdf

Mit Pomp hielten sich die Medici wahrlich nie zurรผck. Die Familiendynastie, die mehrere Jahrhunderte รผber Florenz herrschte, zeigte ihren Machtanspruch auch gern durch Mittel der Kunst. Als 1589 der neue Medici-Chef Ferdinando I. die Prinzessin Christine von Lothringen heiratete, lieรŸ man sich nicht lumpen. Die Feiern dauerten gleich mehrere Tage und und boten viel Kunst und Musik. So wurde als offizielles Rahmenprogramm der Hochzeit ein bislang nie gekanntes Bรผhnenspektakel organisiert: die โ€žPellgrina-Intermedienโ€œ. In sechs Teilen konnte das erlesene Publikum eine Vielzahl allegorischer Anspielungen auf das neue Paar erleben, in einer Mischung aus Bรผhnenhandlung, Tanz und Gesang. Fรผhrende italienische Komponisten, die meisten davon in Diensten der Medici, trugen mit ihren Werken dazu bei, darunter auch Emilio de Cavalieri. Eine seiner Kompositionen, der โ€žBallo del Gran Ducaโ€œ, war so eingรคngig, dass sie schnell die Runde machte und im Laufe des frรผhen 17. Jahrhunderts von vielen weiteren Komponisten bearbeitet wurde.

Einer davon war Adriano Banchieri, der den GroรŸteil seines Lebens als Benediktiner in einem Kloster nahe Bologna verbracht hat. Dort beschรคftigte sich der musikalisch ambitionierte Mรถnch aber keineswegs nur mit Kirchenmusik, sondern entwickelte auch eine groรŸe Vorliebe fรผr das modische Madrigal. Seine mitreiรŸende Instrumentalsonata โ€žsopra lโ€™aria musicale del Gran Ducaโ€œ findet sich allerdings wiederum in einem Druck mit Messen von 1620.

Die italienische โ€žAntwortโ€œ auf das deutsche Magnificat von Praetorius. Fast synchron zu seinem Kollegen in Wolfenbรผttel, aber rund 2.000 km sรผdlicher, komponiert Antonio Cifra ein prรคchtiges achtstimmiges Magnificat in lateinischer Sprache. Gewisse musikalische Gemeinsamkeiten gibt es dennoch.

Als Kapellmeister und Komponist war Antonio Cifra in den ersten drei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts รผberaus aktiv und verรถffentlichte eine Fรผlle an Drucken, in denen der rasante Wandel des musikalischen Stils gut erkennbar ist. Seine musikalische Karriere begann Cifra als Knabensรคnger in der Capella Giulia am rรถmischen Petersdom. Es folgten erste Anstellungen an kleineren rรถmischen Kirchen. Hier sorgte er โ€“ neben seiner unbestrittenen musikalischen Qualitรคt โ€“ fรผr kleinere Skandale, hervorgerufen durch seinen wohl ziemlich freizรผgigen Umgang mit dem anderen Geschlecht (โ€žmale pratiche di donneโ€œ). Auch eine kurzzeitige Inhaftierung Cifras ist belegt. Als Kapellmeister im Marienwallfahrtsort Loreto entging er dem rรถmischen Klรผngel und etablierte sich dort als รผberregional bekannter Komponist. Trotz einer zwischenzeitlichen Rรผckkehr als Kapellmeister an der Lateranbasilika in Rom blieb Loreto sein Lebensmittelpunkt.

Die groรŸ besetzten spรคten Vesperwerke, die Antonio Cifra in den 1620er Jahren verรถffentlich hat, kรถnnen als hervorragende Vermittler zwischen der alten Vokalpolyphonie und der modernen, konzertierenden Satzweise bezeichnet werden. So wechseln auch im Magnificat aus den โ€žMoctetta et Psalmiโ€œ von 1629 kurze kontrapunktische Passagen mit solistischen und blockhaften, doppelchรถrigen Passagen ab.

Magnificat anima mea Dominum.
Et exultavit spiritus meus
in Deo salutari meo.

Quia respexit humilitatem ancillae suae,
ecce enim ex hoc beatam me dicent
omnes generationes.

Quia fecit mihi magna qui potens est
et sanctum nomen ejus.

Et misericordia ejus a progenie
in progenies timentibus eum.

Fecit potentiam in brachio suo,
dispersit superbos mente cordis sui.

Desposuit potentes de sede
et exaltavit humiles.

Esurientes implevit bonis,
et divites dimisit inanes.

Suscepit Israel puerum suum,
recordatus misericordiae suae,
sicut locutus est ad patres nostros
Abraham et semini ejus in saecula.

Gloria Patri et Filio,
et Spiritui Sancto.
Sicut erat in principio,
et nunc, et semper
et in saecula saeculorum.
Amen.

Meine Seele erhebet den Herrn.
Und mein Geist freuet sich
Gottes, meines Heilands.

Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd
angesehen. Siehe, von nun an werden mich seligpreisen alle Kindeskinder.

Denn er hat groรŸe Dinge an mir getan, der da mรคchtig ist und des Name heilig ist.

Und seine Barmherzigkeit wรคhret immer fรผr und fรผr bei denen, die ihn fรผrchten.

Er รผbet Gewalt mit seinem Arm und zerstreuet, die hoffรคrtig sind in ihres Herzens Sinn.

Er stรถรŸt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.

Die Hungrigen fรผllet er mit Gรผtern und lรคsst die Reichen leer.

Er denket der Barmherzigkeit
und hilft seinem Diener Israel auf,
wie er geredet hat unsern Vรคtern,
Abraham und seinen Kindern ewiglich.

Ehre sei dem Vater, dem Sohn
und dem Heiligen Geist.
Wie es war im Anfang,
jetzt und immerdar,
und von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen.

Von wegen abgehobener, verkopfter Theoretikerโ€ฆ Michael Praetorius konnte auch ganz eingรคngige Melodien komponieren, zum Beispiel einen Kanon, der mit den ersten Worten des 98. Psalms textiert wurde. โ€“ Zum Mitsingen geeignet!

Noten: https://ks4.imslp.net/files/imglnks/usimg/a/a4/IMSLP216990-WIMA.a6cd-praetorius_jubilate_deo.pdf

Vokaltext:

Jubilate Deo omnis terra. Amen

Jauchzet dem Herrn, alle Welt. Amen.

Agostino Agazzari war fรผr Michael Praetorius wohl vor allem als Musiktheoretiker maรŸgebend. GroรŸe Teile seines 1607 verรถffentlichten Traktats โ€žDel sonare sopra il bassoโ€œ gab Praetorius in deutscher รœbersetzung in seiner Schrift โ€žSyntagma musicumโ€œ wieder und interpretierte die Aussagen des italienischen Kollegen als Plรคdoyer fรผr die grundlegende Bedeutung des Basso continuo in der Musik. Agazzari setzte seine theoretischen Vorstellungen selbst in zahlreichen Motetten und geistlichen Konzerten um.

 

Ab 1603 verรถffentlichte der rรถmische Kapellmeister Agostino Agazzari geistliche Motetten im modernen Stil. Damit war er โ€“ neben seinem Lehrer Viadana โ€“ einer der ersten Komponisten, der sich konsequent dieser neuen Art des Musizierens widmete. Neben seiner kompositorischen Tรคtigkeit liegt die Bedeutung Agazzaris in seinem theoretischen Werk โ€žDel sonare sopraโ€™l basso con tutti li stromenti e del uso loro nel consertoโ€œ von 1607, der ersten systematischen Generalbasslehre รผberhaupt. Das nur zwรถlf Seiten umfassende Lehrwerk beginnt mit einer Aufzรคhlung des reichen Continuo-Instrumentariums, bevor in knappen Worten die praktische Umsetzung der wichtigsten Ziffern und Zeichen erlรคutert wird. Gegen Ende der Schrift fasst Agazzari seine Einschรคtzung รผber den Umgang mit der Musik neuen Stils wie folgt zusammen: โ€žIch stelle fest, seit letzthin der Stil erfunden wurde, Worte in Musik richtig auszudrรผcken, was besser mit einer oder wenigen Stimmen glรผckt, wie die moderne Arien einiger tรผchtiger Mรคnner beschaffen sind und es zur Zeit in Rom รผblich ist, dass es nicht notwendig ist, eine Partitur oder Tabulatur anzufertigen. Es reicht vielmehr, die Bassstimme mit Zeichen zu versehen, wie sie eben erlรคutert wurden.โ€œ

Agazzari, der von 1602 bis 1607 als Kapellmeister an verschiedenen jesuitischen Institutionen Roms tรคtig war, bestรคtigt mit dem Zitat den hรคufigen Gebrauch der neuen generalbassgestรผtzten Musik in der Stadt. Seine Bemerkung, dass die Komponisten und Organisten โ€“ wie es Viadana noch gefordert hatte โ€“ den Generalbasssatz nicht mehr aussetzen mรผssen, spricht darรผber hinaus dafรผr, dass sich die neue Spielweise unter den Musikern Roms bereits nach wenigen Jahren durchgesetzt hat. Die kleine geistliche Motette โ€žEt repleti sunt omnesโ€œ fรผr zwei Tenรถre und Basso continuo ist ein hervorragendes Beispiel fรผr diesen neuen Stil in der Kirchenmusik.

Et replete sunt omnes, spiritu sancto.
Et coeperunt loqui magnalia Dei.
Alleluja.

Sie waren alle vom Heiligen Geist erfรผllt
Und begannen รผber die GrรถรŸe Gottes zu sprechen.
Halleluja.

Das โ€žLied von der brรผderlichen Eintrachtโ€œ wird Psalm 133 auch genannt: โ€žSiehe, wie fein und lieblich ist, dass Brรผder eintrรคchtig bei einander wohnenโ€œ. Michael Praetorius legt in seiner Sammlung โ€žPolyhymniaโ€œ eine unglaublich differenzierte Vertonung dieses schรถnen Textes vor, inklusive eines ohrwurmartigen Ritornells.

Links:

Noten: http://www.michael-praetorius.de/wp-content/uploads/2020/05/E-17.024-Siehe-wie-fein-und-lieblich-ist-Partitur.pdf

Die Krรถnung der kirchenmusikalischen Publikationen von Michael Praetorius ist die Sammlung โ€žPolyhymnia caduceatrix et panegyricaโ€œ von 1619. Sie vereint 40 Choralkonzerte in der โ€žneuen italienischen Concerten-Manier mit Besetzungen zwischen 10 und 20 Stimmen, wobei die klanglichen Differenzierungen von Streichern, Blรคsern und Vokalstimmen sehr genau austariert wurden. Immer wieder wechselt Praetorius effektvoll zwischen solistischer und grรถรŸerer Besetzung ab, fรผgt instrumentale Ritornelle ein und manifestiert den Basso continuo als durchgehendes Fundament. Ganz offensichtlich handelt es sich bei der โ€žPolyhymniaโ€œ um eine Sammelpublikation von Werken, die Praetorius in den vorangegangenen Jahren fรผr festliche Anlรคsse an verschiedenen Hรถfen komponiert hat.

Die wissenschaftlich anmutende Akribie des Komponisten Praetorius zeigt sich hier besonders deutlich: Zu jeder der Kompositionen formuliert er eine ausfรผhrliche Anweisung, die seine Vorstellungen der Auffรผhrungspraxis detailgenau mitteilt. Im Falle des geistlichen Konzerts โ€žSiehe, wie fein und lieblich istโ€œ kann man dem Vorwort folgende Wรผnsche des Komponisten entnehmen: โ€žIn diesem Konzert โ€šSiehe, wie fein und lieblich istโ€˜ mรผssen die beiden konzertierenden Chรถre weit voneinander und deutlich einander gegenรผber aufgestellt werden, damit ein Chor dem andern und eine Stimme der andern deutlich echoartig antworten kann. Besonders im dritten Teil soll der erste Chor krรคftig klingen und der zweite Chor etwas leiser respondieren.โ€œ

Neben diesen unmissverstรคndlichen Forderungen lรคsst Praetorius seinen potentiellen Interpreten aber auch gewisse Freiheiten und zeigt damit โ€“ bei aller Theorie โ€“ sein Verstรคndnis fรผr die Pragmatik des musikalischen Alltags. โ€žDie Instrumente kann man entweder unterhalb seitlich, oder neben den 2. Vokalchor positionieren. Sollten jedoch die Instrumente die Stimmen รผbertรถnen (wobei auch Theorben und Lauten nicht รผbel klingen wรผrden), so mรผssen die Instrumente an den Stellen, an denen lediglich zwei, drei oder vier Stimmen miteinander konzertieren, pausieren. Wenn dann alle Stimmen zusammen einfallen, spielen sie wieder mit.โ€œ

Siehe, wie fein und lieblich ist, dass Brรผder eintrรคchtig bei einander wohnen.
Lobet den Herren, alle Heiden, und preiset ihn, alle Vรถlker, denn seine Gnad und Wahrheit waltet รผber uns in Ewigkeit. Halleluja.

Wie der kรถstliche Balsam ist, der vom Haupt Aaron herabfleuรŸt in seinen ganzen Bart, der herabfleuรŸt in sein Kleid.
Lobet den Herren, alle Heiden, und preiset ihn, alle Vรถlker.

Wie der Tau, der vom Hermon herab fรคllt auff die Berge Zion. Denn daselbst verheiรŸt der Herr Segen und Leben immer und ewiglich.
Lobet den Herren, alle Heiden, und preiset ihn, alle Vรถlker, denn seine Gnad und Wahrheit waltet รผber uns in Ewigkeit. Halleluja.

Die norditalienische Stadt Bergamo steht Pate fรผr ein Tanz- und Satzmodell, das besonders im 17. Jahrhundert weit verbreitet war, die Bergamasca. Lodovico Viadana, vor allem als Komponist moderner Kirchenwerke bekannt, hat eine achtstimmige Version dieses schmissigen Themas verfasst.

Links:

Noten: https://ks.imslp.net/files/imglnks/usimg/2/23/IMSLP204204-WIMA.9282-la_bergamasca.pdf

Parallel zu Monteverdi entwickelte der vor allem in Rom und Padua tรคtige Komponist Lodovico Viadana eine neue Form der geistlichen Musik: In drei umfangreichen Bรคnden verรถffentlichte er unter dem Titel โ€žConcerti ecclesiasticiโ€œ hunderte Vokalkonzerte, die jeweils nur mit ein bis vier Stimmen und Continuobegleitung besetzt waren und damit einen starken Kontrast zur bisher รผblichen Vokalpolyphonie der Renaissance darstellten. Viadanas Kirchenkonzerte wurden aufgrund ihrer melodischen Eingรคngigkeit schnell populรคr und wurden durch Wiederauflagen und handschriftliche Kopien weit verbreitet.

Lodovico Viadana darf als erster angesehen werden, der sich grundlegend und ausfรผhrlich der Komposition und Publikation der modernen Gattung eines klein besetzten vokalen Concertos widmete. In der Vorrede seiner โ€žCento concerti ecclesiasticiโ€œ รคuรŸerte er sich รผber die Motive seiner Arbeit. Demnach bewogen ihn die Missstรคnde in der Kirchenmusik, vor allem die Praxis, vielstimmige Motetten unvollstรคndig besetzt mit Orgelbegleitung aufzufรผhren, sowie der Mangel an Alternativen, sprich kleinbesetzten Werken, eine neuartige Gattung zu erfinden. Zudem war fรผr Viadana die Textverstรคndlichkeit ein groรŸes Anliegen, als er schrieb: โ€žIch habe mich bemรผht, die Worte so unter die Noten zu setzen, dass sie gut deklamiert werden und darรผber hinaus vollstรคndig und mit zusammenhรคngendem Sinn von den Zuhรถrern deutlich verstanden werden kรถnnen, wenn sie nur von den Sรคngern verstรคndlich ausgesprochen werden.โ€œ Diese Gattung wurden in den Jahren danach tausendfach von den verschiedensten Komponisten nachgeahmt. Auch Michael Praetorius kannte Viadanas Werke und รคuรŸerte sich begeistert รผber diese neuartige Form der Kirchenmusik.

Parallel zu seinen geistlichen Werken hat Viadana auch einen Band mit Instrumentalmusik verรถffentlicht, die โ€žSinfonie musicaleโ€œ von 1610.

Schon auf dem Titelblatt seiner Sammlung โ€žPolyhymniaโ€œ legt Praetorius die Prรคmissen dieser geistlichen Konzerte fest: Sie seien โ€žsolennische Friedens- und Freuden-Konzerteโ€œ und sind besetzt mit โ€žallerhand musikalischen Instrumenten und Menschenstimmen, auch Trompeten und Heerpauken, mit bis zu 21 Stimmen in 2 bis 6 Chรถren.โ€œ Der Hymnus โ€žChriste, der du bist Tag und Lichtโ€œ zeigt exemplarisch diese โ€žsolennischeโ€œ Weise.

Links:

Noten: http://www.michael-praetorius.de/wp-content/uploads/2020/05/E-17.026-Christe-der-du-bist-Tag-und-Licht-Partitur.pdf

Die Vertonung โ€žChriste, der du bist Tag und Lichtโ€œ folgt dem altkirchlichen Abendhymnus โ€žChriste qui lux es et diesโ€œ. Praetorius hat sich mit dieser Melodie bereits zuvor mehrfach beschรคftigt und entsprechende geringstimmige Vertonungen in der Sammlung โ€žMusae Sioniaeโ€œ verรถffentlicht. Nun, in der โ€žPolyhymniaโ€œ steigert er die vokal-instrumentale Besetzung auf 16 Stimmen und setzt dem Werk mit der dreimal zu wiederholenden Doxologie einen wirkungsvollen Rahmen.

Gleichzeitig nutzt Michael Praetorius den Druck der โ€žPolyhymniaโ€œ aber auch fรผr einige grundsรคtzliche Bemerkungen zur Kirchenmusik, die als persรถnliches Vermรคchtnis gelten dรผrfen. Er schreibt: โ€žZur Vollkommenheit und zum Bestand eines vollkommenen Gottesdienstes ist nicht allein eine gute Predigt gehรถrig, sondern auch eine gute Musik und Gesang erfรถrderlich.โ€œ Diese These begrรผndet Praetorius ausfรผhrlich mit Zitaten aus dem Alten Testament, aus den Briefen des Apostels Paulus sowie aus Schriften der Kirchenvรคter, um dann mit der Feststellung abzuschlieรŸen: โ€žWer nicht Lust zur Musica, oder kein Musicus sein will, was wolle derselbe im Himmel machen? Denn im Himmel mรผssen wir alle, der Herr sowohl als der Knecht, musizieren. Und damit wir zu der Himmlischen Cantorey genugsam instruiert und tรผchtig gemacht werden: Lasst uns die Kunst lernen auf Erden, die wir im Himmel gebrauchen werden.โ€œ

Christe, der du bist Tag und Licht, vor dir ist, Herr, verborgen nichts,
du vรคterliches Lichtes Glanz, lehr uns den Weg der Wahrheit ganz.
Wir bitten dein gรถttliche Kraft, behรผt uns, Herr, in dieser Nacht,
bewahr uns, Herr, vor allem Leid, Gott Vater der Barmherzigkeit
Gott Vater sei Lob und Ehr und Preis, darzu auch seinem Sohne weis,
des heilgen Geistes Gรผtigkeit, von nun an bis in Ewigkeit.

Vertreib den schweren Schlaf, Herr Christ, dass uns nicht schad des Feines List,
das Fleisch in Zรผchten reine sei, so sind wir mancher Sorgen frei.

Sinfonia

So unser Augen schlafen schier, lass unser Herzen wachen dir,
beschirm uns Gottes rechte Hand und lรถs uns von der Sรผnden Band.
Gott Vater sei Lob und Ehr und Preis, darzu auch seinem Sohne weis,
des heilgen Geistes Gรผtigkeit, von nun an bis in Ewigkeit.

Beschirmer, Herr der Christenheit, dein Hilf allzeit sei uns bereit.
Hilf uns, Herrr Gott, aus aller Not, durch dein heiligen fรผnf Wunden rot.
Gedenk, o Herr, der schweren Zeit, darin der Leib gefangen leit,
meine Seele, die du hast erlรถst, der gib, Herr Jesu, deinen Trost.
Gott Vater sei Lob und Ehr und Preis, darzu auch seinem Sohne weis,
des heilgen Geistes Gรผtigkeit, von nun an bis in Ewigkeit.

Allein Gott in der Hรถh sei Ehr
und dank fรผr seine Gnade,
darum, dass nun und nimmermehr
uns rรผhren kann kein Schade.
Ein Wohlgefallen Gott an uns hat,
des ist groรŸ Fried ohn Unterlass,
all Fehd hat nun ein Ende.

2. Wir loben, preisn, anbeten dich,
fรผr deine Ehr wir Danken,
Dass du, Gott Vater, ewiglich
regierst ohn alles Wanken.
Ganz ungemessen ist deine Macht,
fort gschicht, was dein Will hat bedacht,
wohl uns des feinen Herren.

3. O Jesu Christ, Sohn eingeborn,
deines himmlischen Vaters,
Versรถhner dern, die warn verlorn,
du Stiller unsers Haders.
Lamm Gottes, heiliger Herr und Gott;
nimm an die Bitt fรผr unser Not, 
erbarm dich unser aller. 

4. O heilger Geist, du grรถรŸtes Gut,
du all’rheilsamster Trรถster,
fรผrs Teufels G’walt fortan behรผt,
die Jesus Christus erlรถset
durch groรŸe Marter und bittern Tod,
ab wend all unser Jamm’r und Not,
dazu wir uns verlassen.

Am 18.06.2021 ab 13:30h fand das dazugehรถrige Community-Event statt:


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