Programmheft
Capella de la Torre –
MUSIKNETZWERK EUROPA:
Der Wolfenbütteler Prachtkodex und seine Konkordanzen
Lebendige Musiküberlieferung aus dem handschriftlichen Chorbuch des bayerischen Kurfürsten Wilhelm IV. (1520)
Der zwischen 1450 und 1600 international bestimmende und an allen Fürstenhöfen zur herrscherlichen Prachtentfaltung gepflegte Musikstil war die frankoflämische Polyphonie. Ein bedeutender Repräsentant dieser Stilrichtung wird in der Herzog August Bibliothek aufbewahrt, das Chorbuch mit der Signatur D-W Cod. Guelf. A Aug. 2°. Dieses ist nicht nur inhaltlich, sondern auch durch seine Abmessungen von 60,5 × 42 cm ein „Riese von einem Buch“ und wurde um 1520 für den bayerischen Kurfürsten Wilhelm IV. niedergeschrieben und künstlerisch hochwertig illustriert – denn auch die Buchmalerei war ein wichtiger Teil der höfischen Repräsentation.
Der Chorbuch enthält insgesamt sieben Messordinarien u.a. von Josquin Desprez, Pierre de la Rue und Matthaeus Pipelare. Alle diese Messen sind auch in anderen – z.B. in Jena, Wien und in der Vatikanbibliothek in Rom aufbewahrten – Handschriften überliefert. Diese „Parallelüberlieferungen“ (sog. „Konkordanzen“) legen ein Netz über die europäische Landkarte, das den Reisewegen der Musiker entspricht, die diese Kompositionen seinerzeit gespielt haben.
Das Chorbuch Wilhelms IV. von Bayern in Wolfenbüttel
(Cod. Guelf. A Aug. 2°)
Das Chorbuch im Umfang von 189 Blatt und einem Format von 60,5 × 42 cm ist nicht nur die größte Handschrift der Herzog August Bibliothek, sondern auch wegen seines Repertoires und seiner malerischen Ausstattung herausragend. Herzog August d. J. von Braunschweig-Lüneburg (1579–1666) erwarb die prachtvoll illuminierte Pergamenthandschrift im Jahr 1653 nach längeren Verhandlungen über ihren Preis von einem unbekannten Vorbesitzer mittels seines Nürnberger Agenten Georg Forstenheuser. Für den Gesamtpreis von 400 Reichstalern kaufte August zusammen mit dem Prachtkodex einen Pergamentdruck des Theuerdank von Kaiser Maximilian I. (1.1.1 Poet. 2°) und ein „kunstbuch“ von Albrecht Dürer, eine heute leider aufgelöste buchförmig gebundene Sammlung von Druckgraphik (ehemals D 3 Geom. 2°). Der Fokus dieser Erwerbung lag eindeutig nicht auf der Musik, sondern auf künstlerisch hochwertigen bibliophilen Kostbarkeiten.
Die Buchmalerei von Cod. Guelf. A Aug. 2° umfasst neben religiösen Motiven Wappen und Porträts von Angehörigen der Habsburger und Wittelsbacher Dynastien, darunter Kaiser Maximilian I. (1459–1519) und Herzog Wilhelm IV. von Bayern (1493–1550), denn das Chorbuch war ein Auftragswerk Kaiser Maximilians und als Geschenk für seinen Neffen Wilhelm IV. von Bayern bestimmt. Geschrieben, illuminiert und gebunden wurde es in der Hofkapelle des Kaisers, wahrscheinlich in Augsburg in den Jahren 1519–20. Von seinem Schreiber stammt auch ein weiteres Chorbuch (Mus. Ms. 510 der Bayerischen Staatsbibliothek München), das für den Salzburger Erzbischof Kardinal Matthäus Lang bestimmt war. Gemeinsam mit diesem Kodex hat die Wolfenbütteler Handschrift einen Teil des Repertoires und auch den Illuminator, einem namentlich nicht bekannten Buchmaler des bayerisch-österreichischen Raumes. Während des Dreißigjährigen Krieges, bei der Plünderung Münchens durch die Schweden im Jahr 1632, wurde der Band nebst weiteren Kunstschätzen entwendet – vermutlich von einem Nürnberger in schwedischen Diensten, der sich dann zwanzig Jahre später Forstenheusers bediente, um die Prachthandschrift zu verhökern.
Das Repertoire der Handschrift umfasst sechs Messen und ein Requiem. Dabei ist unter Messe hier nicht die Eucharistiefeier insgesamt zu verstehen, sondern mehrstimmige Vertonung des Messordinariums, also der ursprünglich von einer Schola einstimmig gesungenen gleichbleibenden Teile der Messliturgie (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei – im Gegensatz zum Messproprium, den im Laufe des Kirchenjahres veränderlichen Teilen). Das Requiem ist die Vertonung der Totenmesse (Missa pro defunctis). An Komponisten sind in der Wolfenbütteler Handschrift mehrere Meister der franko-flämischen Polyphonie vertreten: Josquin Desprez († 1521) mit De beata virgine, Pierre de la Rue († 1518) mit Incessament und Missa pro defunctis, Matthaeus Pipelare († um 1515) mit Fors seulement und Noel Bauldeweyn († um 1530) mit Missa sine nomine und En douleur. Mit Se congie pris des deutlich jüngeren Italieners Costanzo Festa († 1545), der für die päpstliche Kapelle tätig war, ist außerdem eine polyphone Messe aus der Römischen Schule vertreten.
Im Wolfenbütteler Kodex sind die Stimmen wie üblich getrennt aufgeschrieben und jeweils auf eine Doppelseite verteilt (also nicht als Partitur). Die Beschriftung ist verschwenderisch: Bisweilen stehen auf einer Seite nur vier Liniensyteme. Die Musik ist in weißer Mensuralnotation geschrieben, deren Erscheinungsbild von spitzwinkligen, rhombischen Notenköpfen der Semibreves und Minimae beherrscht wird. Die Notation ist mensural, weil sie es erlaubt, die Notenwerte präzise festzulegen; weiß ist sie, weil sie im Gegensatz zur vorausgehenden schwarzen Mensuralnotation die Noten nur noch mit ihrem Umriss dargestellt werden, d. h. innen „hohl“ sind.
Die buchmalerische Ausstattung mit farbigen Initialen und Miniaturen an den Anfängen der Messen erinnert an Chorbücher des burgundischen Hofs aus der Zeit um 1500. Eine Doppelseite ist jeweils mit vier Miniaturen oder Initialen geschmückt. Die Motivik, in der als Vorbild u. a. Albrecht Düreres Gebetbuch für Kaiser Maximilian kenntlich wird, ist bestimmt von religiösen (Heilsgeschichte, Heilige) und dynastischen Themen (Porträts, Wappen). Die Ränder sind mit Grotesken und Bordüren im flämischen trompe-l’œil-Stil ornamentiert. Obgleich Chorbücher vielfach im Gottesdienst in Gebrauch standen, sind sie im allgemeinen nicht als liturgische Handschriften anzusprechen. Das gilt auch für das Chorbuch Wilhelms IV. von Bayern. Der Begriff Chorbuch ist zunächst nur eine Aussage über die spezifische Anordnung der Stimmen und nicht über das Format. Die immer größer werdenden Chorbuchformate am Ende des Mittelalters und in der Frühen Neuzeit kann man pragmatisch als eine Folge der repräsentativen Vergrößerung der Hofkapellen verstehen: Mehr Sänger mussten nun gleichzeitig im selben Notentext lesen. Allerdings hat das Chorbuch Wilhelms IV. niemals musikpraktischen Zwecken gedient. Es war ein Schaustück in der Münchener Kunstkammer. Sein Format folgt keinen praktischen Erwägungen, sondern einer Logik höfischer Repräsentation: Die Größe der Handschrift steht für die dynastische Bedeutsamkeit von Auftraggeber und Empfänger.
Sven Limbeck
Anonym/ Hessen
Fanfare
Josquin Desprez
Ave Maria virgo serena
–
Intervention/Gespräch 1
–
Gregorianik
Ave Maria
Josquin Desprez
Missa de beata virgine: Kyrie
Josquin Desprez
Missa de beata virgine: Gloria
Antonio de Cabezón
Tiento sobe Cum sancto Spiritu
de la “misa de beata virgine“
Anonym
Basse Danse Aliot nouvelle
Pierre da la Rue/ (Josquin Desprez ?)
Incessament mon pauvre coeur lamente
–
Intervention/Gespräch 2
–
Pierre de la Rue
Missa Incessament: Kyrie
Pierre de la Rue
Missa Incessament: Gloria
Anonym/Cabezón
Canto e Tiento del Cavallero
Anonym
Basse danse Jouissance
Pierre de la Rue
Missa Incessament: Sanctus
Pierre de la Rue
Missa Incessament: Agnus
Dr. Sven Limbeck, Konzerteinführung
Capella de la Torre
Margaret Hunter, Sopran
Hildegard Wippermann, Altpommer
Bernd Ibele, Posaune
Annette Hils, Bassdulzian
Ralf Waldner, Orgel
Frank Pschichholz, Laute
Katharina Bäuml,
Schalmei und Leitung
Weitere Informationen: https://www.capella-de-la-torre.de
Incessament
Incessament livre suis a martire
triste et pensif tousiours mon mal empire
ainsi dolent me conduit desplaisir
celle qui peult ne veult me secourir
mon malheur est de tous autres le pire
I suffer incessantly from martyrdom,
through sad thoughts my pains worsen steadily.
And suffering thus, I am lead by discomfort
and she who might cure it, wants it not.
My suffering is worse than anyone’s.
Ave Maria virgo serena
Ave Maria, Gratia plena,
Dominus tecum, Virgo serena.
Ave, cuius Conceptio,
Solemni plena gaudio,
Caelestia, Terrestria,
Nova replet laetitia.
Ave, cuius Nativitas
Nostra fuit solemnitas,
Ut lucifer lux oriens
Verum solem praeveniens.
Ave pia humilitas,
Sine viro fecunditas,
Cuius Annuntiatio
Nostra fuit salvatio.
Ave vera virginitas,
Immaculata castitas,
Cuius Purificatio
Nostra fuit purgatio.
Ave, praeclara omnibus
Angelicis virtutibus,
Cuius Assumptio
Nostra fuit glorificatio.
O Mater Dei,
Memento mei. Amen.
Hail Mary, full of grace,
The Lord is with thee, serene Virgin.
Hail, thou whose Conception,
Full of great joy,
Fills heaven and earth
With new gladness.
Hail, thou whose Nativity
Became our great celebration,
As the light-bearing Morning Star
anticipates the true Sun.
Hail, faithful humility,
Fruitful without man,
Whose Annunciation
Was our salvation.
Hail, true virginity,
Immaculate chastity,
Whose Purification
Was our cleansing.
Hail, glorious one
In all angelic virtues,
Whose Assumption
Was our glorification.
O Mother of God,
Remember me. Amen.
Kyrie
Kyrie eleison,
Christe eleison,
Kyrie eleison.
Herr erbarme dich,
Christus erbarme dich,
Herr erbarme dich.
Gloria
Gloria in excelsis Deo.
Et in terra pax hominibus bonae voluntatis.
Laudamus te. Benedicimus te.
Adoramus te. Glorificamus te.
Gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam.
Domine Deus,
Rex caelestis,
Deus Pater omnipotens.
Domine Fili unigenite, Iesu Christe.
Domine Deus,
Agnus Dei,
Filius Patris.
Qui tollis peccata mundi, miserere nobis.
Qui tollis peccata mundi, suscipe deprecationem nostram.
Qui sedes ad dexteram Patris,
miserere nobis.
Quoniam tu solus Sanctus.
Tu solus Dominus.
Tu solus Altissimus,
Iesu Christe.
Cum Sancto Spiritu,
in gloria Dei Patris.
Amen.
Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden
und den Menschen ein Wohlgefallen!
Wir loben dich,
wir beten dich an, wir preisen dich,
wir sagen dir Dank um deiner großen Herrlichkeit willen.
Herr Gott!
Himmlischer König! Allmächtiger Vater!
Herr, du eingeborner Sohn,
Jesu Christe!
Herr Gott,
du Lamm Gottes, Sohn des Vaters!
Der du die Sünde der Welt trägst, erbarme dich unser!
Der du die Sünde der Welt trägst, nimm an unser Gebet.
Der du sitzest zur Rechten des Vaters, erbarme dich unser!
Denn du allein bist heilig, denn du allein bist der Herr,
du allein bist der Allerhöchste, Jesus Christus
mit dem Heiligen Geiste in der Herrlichkeit Gottes, des Vaters.
Amen!
Sanctus
Sanctus, Sanctus, Sanctus,
Dominus Deus Sabaoth.
Pleni sunt coeli et terra gloria tua.
Osanna in excelsis.
Benedictus qui venit
in nomine Domini.
Osanna in excelsis.
Heilig, heilig, heilig
ist Gott, der Herr Zebaoth!
Alle Lande sind Deiner Ehre voll.
Hosanna in der Höhe!
Gelobt sei der da kommt
im Namen des Herrn.
Hosanna in der Höhe!
Agnus Dei
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis.
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis.
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem.
Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, erbarme dich unser.
Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, erbarme dich unser.
Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, gib uns deinen Frieden.
Josquin Desprez
Missa de beata virgine: Kyrie
Josquin Desprez
Missa de beata virgine: Gloria
Ein Höhepunkt der Musikgeschichte ist die polyphone, das heißt mehrstimmige Musik des 16. Jahrhunderts. Tonaufnahmen aus dieser Zeit gibt es natürlich nicht. Wir können diese Musik singen und spielen, weil sie uns schriftlich überliefert ist, nämlich in der Form der Weißen Mensuralnotation: weiß, weil die meisten Notenköpfe nur in Umrissen gezeichnet und innen weiß wie die Schreibunterlage sind, und Mensuralnotation, weil jede Note einen festen Zeitwert hat, jeweils soundso viele Schläge; „Mensur“ kommt von „messen“. Nur so können mehrere Noten gleichzeitig so zusammengefügt werden, dass sie zusammenpassen, dass es schöne Harmonien gibt.
Veranstaltung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel in Zusammenarbeit mit dem VFEHB e.V. und Capella de la Torre.
Das Konzert ist Teil der Reihe Renaissancemusik an Elbe Weser 2023 und wird gefördert durch MWK, SBK und die Stiftung Niedersachsen.